
AKTUELLES UND PERSPEKTIVEN
Bitte beachten Sie das Folgende: Alle Texte dieser Seite sind urheberrechtlich geschützt. Das Kopieren, Weiterverbreiten usw. der Inhalte ist ausdrücklich untersagt. Nach § 106 UrhG macht sich strafbar, wer vorsätzlich ein Werk unerlaubt vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergibt.
-
2024-12-27 -- Der Kindeswille in Umgangsverfahren (§ 1684 BGB)
In Umgangsverfahren ist es Aufgabe des Familiengerichts, (auch) den Willen des Kindes zu ermitteln.
Dies geschieht durch die Anhörung des Kindes (gemäß § 159 FamFG), die Bestellung eines Verfahrensbeistands -- oder eben durch ein Sachverständigengutachten. Trotz gesetzlicher Vorgaben und Rechtsprechung des BGH bleibt die Kindesanhörung zuweilen aus, da z. B. manche Richterinnen und Richter Unsicherheiten oder Kompetenzzweifel haben.
Nach § 159 FamFG kann auf die Anhörung verzichtet werden, wenn der Kindeswille für die Entscheidung nicht relevant ist. Dies gilt jedoch als widersprüchlich, da die Relevanz ja eigentlich nur durch die Anhörung festgestellt werden kann. Die Anhörung dient nicht nur zur Klärung von Streitfragen, sondern auch dazu, das Kind in seiner Situation und seinen Bedürfnissen wahrzunehmen.
Von der psychologischen Warte aus betrachtet überfordert eine Entscheidungsverlagerung auf das Kind es oftmals massiv, und verstärkt ggf. dessen Loyalitätskonflikte. Die Verantwortung bleibt daher bei den Eltern oder dem Gericht.
Studien * zeigen, dass die Einbeziehung des Kindes in die Entscheidungsfindung positive Effekte hat, darunter eine erhöhte Anpassungsfähigkeit und Stabilisierung des Betreuungsmodells. Eine fehlende Kindesanhörung kann die Selbstwirksamkeit des Kindes beeinträchtigen und zu einer sekundären Kindeswohlgefährdung, also zu einer Gefährdung im Nachhinein führen. Die jeweilige Bindung des Kindes an dessen Eltern (oder ggf. dessen anderweitigen Hauptbezugspersonen) lässt sich ebenfalls nur durch Anhörungen, oder durch Verhaltens- und Interaktionsbeobachtungen, sowie testpsychologischen Untersuchungen, die von familienpsychologisch geschulten Sachverständigen durchgeführt werden, mit ausreichender Evidenz feststellen.
Die Qualität der Anhörung hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter das Setting, die Art der Fragen und der Umgang mit dem Kind. Obwohl es Schulungen und Qualifikationsanforderungen zur fachgerechten Erhebung des Kindeswillens gibt, fehlen fachübergreifend einheitliche Standards und ausreichend Fortbildungsangebote (Anmerkung betreffend die Angebote: die Deutsche Psychologen Akademie bietet [auch zu den Themen Elterliche Sorge, Umgangs- und Aufenthaltsbestimmungsrecht] sehr hochqualitative, mehrtägige Seminare für Familienrechtspsychologen im BDP an, die ich mehrmals pro Jahr gerne als Weiterbildungs- und Wissensupdate-Quelle nutze).
Um den Kindeswillen angemessen zu erheben, ist auch der Einsatz eines Verfahrensbeistands sinnvoll, da dieser Zeit für Hausbesuche und Interaktionsbeobachtungen hat. Ist der Kindeswille festgestellt, muss seine psychologische Qualität und rechtliche Beachtlichkeit bewertet werden. Dabei sind neben juristischen auch psychosoziale Fachkompetenzen erforderlich. (Anmerkung: Verfahrensbeistände sind in Familiensachen [FamFG -- Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit] i. d. R. bereits dort installiert, bevor ich von den Familiengerichten/Senaten als psychologische Sachverständige mit der Erstattung eines familienrechtspsychologischen Gutachtens beauftragt werde.)
Die Entwicklungspsychologie zeigt, dass Kinder ab etwa drei Jahren einen eigenen Willen bilden können. Ist die Sprachentwicklung unzureichend, sollten nonverbale Signale berücksichtigt werden. In der Praxis der familienpsychologischen Gutachtenerstellung ist, wenn erforderlich, immer sorgfältig zu diskutieren, ob der Kindeswille durch einen Elternteil manipuliert wurde. Entscheidend ist jedoch, ob der Wille die tatsächlichen Bindungsverhältnisse widerspiegelt.
Wichtig dabei: Selbst ein beeinflusster Wille kann ein wichtiger Indikator für die emotionale Sicherheit des Kindes sein.
Das Bundesverfassungsgericht betont, dass der Kindeswille grundsätzlich zu respektieren ist, es sei denn, er entspricht nicht den tatsächlichen Bindungsverhältnissen. Wird der Kindeswille ignoriert oder ein erzwungener Umgang durchgesetzt, kann dies zu einer sogenannten sekundären Kindeswohlgefährdung führen. Andererseits kann das Verhindern eines Bindungsabbruchs ebenfalls im Kindeswohl liegen.
Die Bewertung des Kindeswillens erfolgt anhand der Kriterien Autonomie, Intensität, Stabilität und Zielorientierung. Ein autonomer Wille basiert auf eigenen Erlebnissen mit einem Elternteil. Die Intensität zeigt sich in der Nachdrücklichkeit der Willensäußerung, die Stabilität in der Aussagebeständigkeit und -kongruenz gegenüber verschiedenen Verfahrensbeteiligten. Der zielorientierte Wille ist handlungsleitend und beinhaltet klare Vorstellungen über die Zielerreichung.
Ein erzwungener Umgang kann übrigens mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen, wenn er seitens des Kindes als Missachtung der eigenen Persönlichkeit erlebt wird. Gleichzeitig ist zu prüfen, ob ein Bindungsabriss schwerwiegendere Folgen hätte. In hochkonflikthaften Trennungssituationen sollten Willensbekundungen sorgfältig bewertet werden, um das Kindeswohl bestmöglich zu gewährleisten.
* (z. B. Zimmermann, Janin/Bovenschen, Ina/Kindler, Heinz (2021): Berücksichtigung des Kindeswillens aus psychologischer Perspektive, JAmt 2021: 367 f.)
-
2023-06-09 -- Zum Wechselmodell
Die Bedürfnisse jedes Kindes und die jeweilige Familiensituation sind mit großer Sorgfalt zu betrachten. Die Dialogfähigkeit und die Kommunikation zwischen den Eltern, das Kontinuitätsprinzip und die räumliche Entfernung zwischen den Wohn-orten der Eltern sind dabei unter den jeweils gegebenen Umständen drei besonders gewichtige Faktoren.
Die Ausgestaltung sowohl der Ausübung des gemeinsamen Sorgerechts als auch des Umgangsrechts ist zunächst soweit grundsätzlich der Autonomie der Eltern überlassen – je nach Uneinigkeit können aber in Familiensachen gerichtliche Entscheidungen notwendig werden. Je nach den verschiedenen Fallhistorien mit deren unterschiedlichen Anknüpfungs-tatsachen und aller sachdienlichen Erkenntnisse, die im Rahmen der Erstellung eines Gutachtens gewonnen werden können, ist es manchen Kindeseltern nicht möglich – u. U. auch trotz bereits zahlreich von außen erfolgter Hilfen – zu ausreichend einvernehmlichen bzw. unstrittigen Lösungen zum Wohle ihrer Kinder zu finden.
Letztlich müssen die Vorteile der von einem Elternteil angestrebten Neuregelung (Wechselmodell) die mit der Abänderung verbundenen Nachteile deutlich wie dauerhaft überwiegen.
Gemäß den Ergebnissen des vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz [vormals BMJV, heute BMJ] geförderten „15. Göttinger Workshops zum Familienrecht“ im Oktober 2017 [Schumann, Coester-Waltjen, Lipp & Veit, 2018, S. 58] ist die Begründung des Wechselmodells – hier wohlgemerkt: aus Sicht der juristischen, nicht aus Sicht der psycholo-gischen Domäne – jeweils als Einzelfall zu betrachten, der eben einer gerichtlichen Entscheidung bedarf. Dies ist in gewisser Hinsicht freilich auch für den jeweils fallbeteiligten familienpsychologischen Sachverstand von nicht unerheblicher Bedeutung. In den praktischen Ergebnissen werden als (fallrelevante) „Voraussetzungen für ein Wechselmodell“ – zusam-menfassend – genannt:
Das Alter des Kindes ● die Erziehungsgeeignetheit der Eltern ● die räumliche Nähe der Eltern ● die hohe Koopera-tionsbereitschaft und gute Kommunikationsfähigkeit der Eltern ● die Fortführung eines bereits bei Trennung praktizierten Betreuungsmodells ● Kindeswohl und Kindeswille.
Gemäß dem „Wegweiser für den Umgang nach Trennung und Scheidung“ des Herausgeberverbundes von „Deutsche Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft e.V.“, „Deutscher Kinderschutzbund Bundesverband e.V.“ und „Verband alleiner-ziehender Mütter und Väter, Bundesverband e.V.“ [Dimpker et al., 2017] sind wiederum Faktoren, die „das Gelingen eines Wechselmodells mit annähernd gleichen Betreuungsanteilen fördern“ [ebd.], zusammengefasst, folgende:
Das Kind kann sich dieses Betreuungsmodell vorstellen und wünscht es sich ● Das Kind hat gleichwertig positive Bezie-hungen zu beiden Elternteilen und Bindungen an beide Elternteile ● Die Wohnorte der Eltern sind nicht weit entfernt und ermöglichen es dem Kind, unkompliziert zum anderen Elternteil zu gelangen. Dies erleichtert auch den Erhalt von sozialen Kontakten und die Beibehaltung der Betreuungsstätten und der Schule ● Die Eltern sind bereit und in der Lage, sich auch auf verändernde Bedürfnisse des Kindes einzustellen ● Es besteht eine tragfähige Elternbeziehung, ein Mindestmaß an Übereinstimmung, ein niedriges Konfliktpotential und eine ausreichende Kooperation, um das oben genannte umzusetzen
● Auch das Alter des Kindes ist bei der Wahl des Betreuungsmodells vor allem mit Übernachtungen zu berücksichtigen.
Es besteht also hinsichtlich der zwei vorstehenden Abgleiche diverser Kernthemen zum Wechselmodell ein recht breiter Konsens.